Vorlesedauer: ca. 4 minTief im moosigen Wald, wo der Boden weich wie ein Kissen war und das Licht golden durch die dichten Baumwipfel fiel, stand eine kleine Pilzfamilie. Sie lebte ganz dicht beieinander unter einer alten, knorrigen Buche.
Mama Fliegenpilz, Papa Fliegenpilz und ihre zwei Kinder waren unverkennbar mit ihren leuchtend roten Köpfen, die mit feinen, weißen Punkten bedeckt waren. Wie kleine Laternen leuchteten sie zwischen Farnen und Wurzelwerk.
Der Wald war still und friedlich. Nur das sanfte Rauschen der Blätter, das Knacken trockener Zweige und ab und zu ein Rascheln im Gebüsch waren zu hören. Es war Herbst, und die Farben um sie herum strahlten in warmen Rottönen, sattem Orange und goldenem Gelb.
Die Fliegenpilzkinder standen ganz nah nebeneinander. Das jüngere von beiden seufzte leise: „Jahr für Jahr stehen wir hier und haben noch nie mehr gesehen als diesen moosigen Waldboden.“
Die Schwester sah es von der Seite an, sagte aber nichts. Mama und Papa hatten ihre Augen geschlossen. Schon längst waren sie im tiefen Schlaf versunken.
„Selbst die Tiere machen einen Riesenbogen um uns“, flüsterte der kleine Pilz weiter. „Weil wir so giftig sind. Keiner möchte etwas mit uns zu tun haben. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein ganz normaler Pilz. Vielleicht würde dann jemand mit einem Korb vorbeikommen und mich mitnehmen.“
Die große Schwester riss erstaunt die Augen auf. „Kleiner Bruder, was denkst du denn, was dir dann in so einem Korb passieren würde?“

Der kleine Pilz schwieg. Lange. Dann schloss er langsam die Augen. Auch die Schwester senkte den Kopf und lächelte ein wenig. Insgeheim konnte sie ihn gut verstehen.
Im Traum spürte der kleine Pilz plötzlich, wie er seine Wurzeln aus der Erde lösen konnte. Er streckte sich, wackelte ein bisschen mit dem Hut und machte sich leise auf den Weg.
Ganz allein lief er durch das raschelnde Laub, vorbei an Wurzeln und Tannenzapfen. „Ich will hinaus“, sagte er. „Hinaus in die Welt. Weg von hier.“
Da raschelte es über seinem Kopf, und eine Eule landete auf einem Ast. „Wohin willst du, kleiner Fliegenpilz?“, fragte sie mit tiefer Stimme. „Ich will mehr sehen als nur Moos und Schatten“, antwortete er. Die Eule neigte den Kopf. „Aber ich habe mich oft an dir orientiert. Dein roter Hut ist für mich wie ein Leuchtturm. Ich wusste immer, wo ich bin, wenn ich dich sah.“
Der kleine Pilz stutzte. Das hatte er nicht gewusst.
Ein paar Schritte weiter hoppelte ein brauner Hase aus dem Gebüsch. „Hey, bist du nicht der Pilz von der Buche?“, fragte er. „Ich habe meine Wintervorräte ganz in deiner Nähe versteckt. Kein Fuchs, kein Dachs, kein Mensch kommt da hin, weil du so giftig bist. Du beschützt sie für mich.“
Der kleine Pilz wurde ganz warm unter seinem roten Hut. „Wirklich?“
Ein Tropfen fiel ihm auf den Kopf. Dann noch einer. Es begann zu regnen. Schnell kroch eine kleine Schnecke unter seinen Schirm. „Ah, hier ist es schön trocken! Danke, dass ihr so große Hüte habt. Ich ruhe mich oft bei euch aus, wenn es stürmt und regnet!“, schnaufte sie dankbar.
Der kleine Pilz blickte in den Regen. Noch nie hatte er bemerkt, wie viele Tiere ihn und seine Familie im Wald kannten. In diesem Moment wurde es still in seinem Traum. Der Regen hörte plötzlich auf. Auch die Tiere verschwanden wie feiner Nebel im ersten Sonnenlicht.
Als der kleine Pilz am Morgen wieder seine Augen öffnete, war der Waldboden weich und warm. Die Sonne streichelte seinen Schirm. Seine Schwester döste noch, Mama und Papa schlummerten ruhig.
Der kleine Fliegenpilz sah sich um. Die Eule saß hoch oben im Baum, der Hase hüpfte durch das Gebüsch, und eine kleine Schnecke glitt gemächlich durch das Moos.
Zum ersten Mal fühlte sich alles richtig an. Ganz genau richtig.
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