
Dackel Walter döste genüsslich in der Morgensonne, als er die aufgeregte Stimme von Frau Blumenthal aus der Küche hörte. Sie saß am Fenster und hielt die Tageszeitung vor ihrem Gesicht ausgebreitet, sodass ihre zarte Gestalt fast vollkommen dahinter verschwand.
„Wenn man nicht wüsste, dass Frau Blumenthal da sitzt“, dachte sich Walter, „könnte man auch denken, die Zeitung könnte sprechen.“ Von seinem gemütlichen Plätzchen in der Diele beobachtete er amüsiert, wie Frau Blumenthal verzweifelt versuchte, die vielen knisternden und raschelnden Seiten der Zeitung zu bändigen, um sie scheinbar wieder in den Ursprungszustand zusammenzufalten.
Einigermaßen ordentlich lag die Zeitung nun neben einem Marmeladenbrötchen und einer Teetasse auf dem Küchentisch. Erst jetzt bemerkte Frau Blumenthal Walters neugierigen Blick.
„Ach, Walter, wenn du nur wüsstest: In diesem Ort passieren in letzter Zeit Sachen … kaum auszumalen. Die schönen Juwelen. Es ist wirklich ein Trauerspiel!“, resümierte sie. Frau Blumenthal trank einen Schluck Tee, biss noch einmal in das Brötchen und begann gedankenversunken den Tisch abzuräumen.
„Etwas deutlicher hätte sie sich schon ausdrücken können“, ärgerte sich Walter, der dieses Wochenende bei Frau Blumenthal verbrachte. Sein Herrchen war zu einer Hochzeitsfeier nach Italien eingeladen.
„Was steht bloß in dieser Zeitung?“, überlegte Walter. „Und von welchen Juwelen sprach Frau Blumenthal?“ Er lief im Wohnzimmer auf und ab und grübelte so vor sich hin.
„Juwelen hier bei uns in der kleinen Stadt? Und was könnte wohl mit ihnen passiert sein?“ In Walters Kopf begann es bereits zu rattern.

Er lief noch immer gedankenversunken hin und her, was Frau Blumenthal wiederum nervös zu machen schien. Sie beobachtete den unruhigen Dackel bereits seit einer Viertelstunde und empfand sein Verhalten äußerst merkwürdig.
„Vielleicht hat er sein Frühstück nicht vertragen?“ Besorgt über den Zustand des Dackels beschloss sie, vorsichtshalber Walters Herrchen in Italien anzurufen.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Sie sollen sich doch in Italien erholen. Ist es so schön warm, wie Sie es sich erhofft haben?“ Frau Blumenthal war bemüht, im Gespräch die Ruhe zu bewahren, doch ihr Nachbar merkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen und Walter? Sie wirken etwas aufgeregt“, fragte er.
„Sie werden nicht glauben, was gestern Abend hier im Ort passiert ist!“, erzählte Frau Blumenthal eilig. „Es wurden alle Juwelen aus dem alten Stadtmuseum gestohlen. Nun sind sie womöglich für immer verschwunden.“
Aufgeregt berichtete sie weiter: „Und das Schlimmste: Bisher weiß noch niemand, wer sie aus dem Museum gestohlen hat und wie es möglich sein konnte, überhaupt in das Museum einzudringen. Es wird doch Tag und Nacht überwacht!“
Nachdem sie kurz Luft geholt hatte, sprudelte es nur so aus ihr heraus: „Und außerdem mache ich mir Sorgen um Walter. Er benimmt sich heute Vormittag ziemlich seltsam, läuft die ganze Zeit auf und ab und kommt gar nicht zur Ruhe. Ich vermute, dass er sein Frühstück nicht vertragen hat. Ich hatte ihm ein Frühstücksei zubereitet, war das etwa nicht in Ordnung?“
Walters Herrchen versuchte Frau Blumenthal zu beruhigen. „Mit dem Frühstücksei haben Sie sicherlich nichts falsch gemacht. Im Gegenteil! So wie ich meinen Dackel kenne, war das ein wahrer Genuss am frühen Morgen. Vielmehr vermute ich, dass er von den Nachrichten genauso aufgewühlt ist wie Sie!“
Einen Moment lang blieb es in der Leitung still. Frau Blumenthal begann gerade zu sagen: „Aber Walter ist doch ein Hund …?!“ Doch dann unterbrach sie den Satz, als sie plötzlich Walters Kopf durch den Türrahmen hervorlugen sah.
„Man könnte ja fast meinen, dass er uns versteht…“ flüsterte sie in die Telefonleitung. Nun machte sich auch Walters Herrchen Sorgen um Frau Blumenthal und bat sie darum, zunächst einmal Ruhe zu bewahren.
Seinem Hund gehe es ganz sicher gut und in zwei Tagen sei er ja auch wieder zurück. Bis dahin solle sie sich nicht so viele Sorgen machen.
Nach dem Gespräch ließ sich Frau Blumenthal in ihren Ohrensessel fallen.
Walter setzte sich unterdessen auf die Treppenstufen, die in den kleinen Garten von Frau Blumenthal hinabführten, und ließ den warmen Wind durch sein struppiges Fell wehen. Hier döste er einfach so vor sich hin und dachte darüber nach, wie es wohl gerade in Italien war.
Er vermisste sein Herrchen ein bisschen und zweifelte kurz, ob er nicht vielleicht doch hätte mitfahren sollen. Doch schnell kam er zu dem Ergebnis, dass er dann den mysteriösen Raub der Juwelen verpasst hätte.
Plötzlich wurde er von etwas Glänzendem aus seinen Gedanken gerissen, das ihm hoch am Himmel entgegenfunkelte. Es klirrte und klapperte leise im Wind und erst dann bemerkte Walter, dass es im Schnabel eines Vogels steckte.
Was für ein Vogel es war, konnte er von hier unten nicht erkennen, nur dass er geradewegs auf den alten Apfelbaum von Frau Blumenthal zusteuerte. Als der Vogel auf dem Baum gelandet war, machte sich Walter sofort auf den Weg dorthin. Er setzte sich unter den Baum, bellte ein paar Mal laut auf und sah dann den Vogel von einem Ast herunterschauen.
„Aha, eine Elster also“, dachte sich Walter und überlegte, was wohl soeben Glitzerndes in das Nest transportiert worden war. „Dich werde ich sicherheitshalber im Auge behalten; schließlich sagt man Elstern ja eine gewisse Vorliebe für glänzende Dinge nach.“
So verbrachte Walter den gesamten Nachmittag im Garten von Frau Blumenthal und beobachtete die Elster dabei, wie sie unermüdlich Gegenstände in ihr Nest transportierte. „Bist du etwa die gesuchte Diebin?“, überlegte er.
„Das werde ich schon noch herausfinden. Doch dafür muss ich dir wohl eine Falle stellen.“ Nun tüftelte Walter an einem Plan, wie er die Elster austricksen konnte.
Er streifte durch das Haus und suchte Zimmer für Zimmer nach glänzenden Gegenständen ab. Und tatsächlich: Im Schlafzimmer von Frau Blumenthal entdeckte er einige Perlenketten und einen Armreif mit glänzenden Ornamenten.
„Wenn meine Vermutung tatsächlich zutrifft, wird mir Frau Blumenthal sicherlich nie verzeihen, dass ich ihren Schmuck dafür riskiert habe.“ Grübelnd und nach einer anderen Idee suchend, ließ er den Blick noch ein letztes Mal durch das Zimmer schweifen und strahlte dann über das ganze Gesicht.
„Ich hab’s!“ Zielsicher lief er zu der Kommode, auf der ein paar Bastelsachen und Stoffreste lagen. Dort stand ein wunderschönes silbernes Diadem mit aufgeklebten bunten, glitzernden Steinen.
Er wusste, dass das Diadem nicht echt war, weil Frau Blumenthal leidenschaftlich gern Karneval feiert und seit etlichen Jahren an ihren Kostümen werkelte. „Tut mir leid – schönes Diadem – aber mit dir werde ich die Diebin überführen müssen.“
Walter schnappte das Diadem mit seiner Schnauze und positionierte es am Küchenfenster. Zufrieden stellte er fest, dass die Sonnenstrahlen das Diadem in etlichen, wunderschönen Farben funkeln ließen. „Nun muss ich nur noch das Fenster öffnen und mich auf die Lauer legen“, beschloss Walter siegessicher.
Er legte sich in sein Körbchen auf dem Küchenboden und beobachtete unentwegt das Fenster. Doch durch die warmen Sonnenstrahlen wurde auch Walter sehr müde. Seine Augen wurden mit der Zeit immer schwerer und dann schlief Walter plötzlich ein und versank in einen spannenden Traum.
Doch plötzlich schreckte er auf. „Was war passiert?“ Im Eiltempo raste er zum offenen Küchenfenster. „Tatsächlich! Das Diadem ist weg!“ Er streckte seinen Kopf aus dem offenen Fenster und sah am Himmel die Elster davonfliegen.
Wieder war sie schwer beladen. Doch diesmal blendete die Sonne so sehr, dass Walter nicht genau erkennen konnte, was sie in ihrem Schnabel davontrug. Über seine Müdigkeit verärgert, rief Walter: „Auf frischer Tat ertappt, du diebische Elster! Wer dieses Diadem klaut, dem traue ich auch den Diebstahl der echten Juwelen zu!“
In diesem Moment betrat Frau Blumenthal mit einem Strauß Tulpen die Küche. „Endlich lässt sich die Sonne mal wieder blicken, nicht wahr Walter?“
Sie suchte eine Vase heraus, stellte die Tulpen auf den Tisch und sagte dann: „Was hältst du davon, wenn wir bei dem schönen Wetter unseren heutigen Spaziergang mal zum Museum verlegen? Aktuell spricht ja die ganze Stadt von dem Diebstahl. Vielleicht sollten wir uns auch mal einen Eindruck davon verschaffen?“
Walter war begeistert. Er hätte Frau Blumenthal gar nicht so neugierig eingeschätzt, aber ihr Interesse an dem Fall kam ihm natürlich äußerst gelegen. „Endlich kann ich meine Ermittlungen am Tatort beginnen“, freute er sich.
Ab jetzt war er wieder Kommissar Walter, der sich im Museum ganz genau umsehen und den Ort des Geschehens sorgfältig unter die Lupe nehmen würde. Am Museum angekommen, nahm er sich fest vor, die diebische Elster zu überführen und vielleicht sogar bei einem weiteren Diebstahl zu ertappen.
Er betrachtete nun den großen hellen Raum des Museums ganz genau. Da entdeckte er eine Glasvitrine, die mit einem rotem Plastikband abgesperrt wurde. Daran hing ein Zettel mit einem Foto. „Sieh nur einer an!“, hörte er Frau Blumenthal leise sagen. „Hier waren sie also… die schönen Juwelen.“
Walter betrachtete das Foto und sah in seinen Vorstellungen die Elster am Himmel fliegen, beladen mit einem schweren Sack voller Museumsjuwelen. Doch dann sah er sich das Foto noch einmal an und überlegte: „Die gestohlenen Juwelen könnten vielleicht etwas zu schwer sein für einen Vogel, wie die Elster.“
Nachdenklich musterte er den Raum und schaute sich auch die Decke an. Zweifelnd stellte er fest: „Hier ist weit und breit kein Fenster und auch kein Lüftungsschacht zu sehen. Wie hätte die Elster mit ihrer Beute fliehen sollen?“
In diesem Moment wurde er auf ein klirrendes Geräusch aufmerksam. Es war leise und scheinbar hörten es die menschlichen Museumsbesucher nicht. Auch Frau Blumenthal schien es nicht wahrzunehmen und betrachtete in aller Ruhe ein Gemälde an der Wand.
Walter wurde neugierig und folgte seinem feinen Hundegehör, welches dem menschlichen um Einiges überlegen war. Ganz unbemerkt lief er den Gang entlang und bog dann dem Geräusch folgend nach links in den Flur ab. Schon von weitem sah er einen Schatten an der Wand.
Er pirschte sich lautlos und ganz vorsichtig näher heran, guckte dann vorsichtig um die Ecke und… was sah er dort? An der Vitrine stand ein Museumsmitarbeiter.
Walter erkannte ihn an der Uniform, die hier alle Museumswärter trugen. Walter war schon öfter mit seinem Herrchen als Besucher einiger Kunstausstellungen hier gewesen.
„Ach, wahrscheinlich ist hier eben etwas zu Bruch gegangen und der Mitarbeiter tauscht es gerade aus“, murmelte Walter etwas erleichtert. Sicherlich hatte auch Frau Blumenthal in der Zwischenzeit bemerkt, dass ihr der Dackel abhanden gekommen war.
„Noch mehr Aufregung kann die alte Dame nicht gebrauchen“, dachte er sich und beschloss gerade wieder umzukehren. Doch da war das Geräusch wieder. Es klirrte und schepperte jetzt noch heftiger.
Er drehte sich wieder um und sah, wie der Mann die gesamten Silbertaler, einige glänzende Pokale und Trophäen aus der Vitrine in einen Sack aus braunem Samt kippte und dann in einen Rucksack stopfte. Dabei fielen ihm einige Teile zu Boden, die er mit schnellen und hektischen Bewegungen wieder zu sammeln versuchte.
Der Mann drehte sich sichtlich aufgeregt um und prüfte, ob ihn jemand beobachtet haben könnte. Dann nahm er sein Telefon aus der Tasche und Kommissar Walter hörte ihn sagen: „Ich habe jetzt alles. Ich bringe die Lieferung gleich vorbei.“
Als er aufgelegt und den Rucksack verschlossen hatte, ging er schnellen Schrittes zum Ausgang.
Walter blieb jetzt nicht viel Zeit. Rasend überlegte er, was nun zu tun war und entschied sich, so laut zu bellen, wie es nur ging. Und tatsächlich. Sein Plan ging auf.
Frau Blumenthal war bereits auf der Suche nach Walter und lief so schnell sie konnte dem lauten Bellen entgegen. Auch die anderen Museumsbesucher wurden auf den ohrenbetäubenden Lärm aufmerksam und versammelten sich nun auf dem Flur des Geschehens.
Als Frau Blumenthal, völlig außer Puste, endlich in Reichweite des Dackels angelangt war, rief sie nervös: „Walter, so hör doch bitte auf zu bellen! Was ist denn bloß los?“
Auf diese Gelegenheit hatte Walter nur gewartet. Er spurtete dem Mann hinterher, bellte und kläffte wieder so laut, wie er nur konnte und sprang dann am Rucksack des Mannes empor. Der Mann in der Museumsuniform versuchte ihn genervt und hektisch abzuschütteln.
Im Hintergrund hörte Walter Frau Blumenthal noch verlegen rufen: „Walter! So lass doch bitte den armen Museumswärter in Frieden. So kenne ich dich ja gar nicht!“ Sie wollte den Dackel gerade am Halsband zurückziehen, da fiel dem Mann der Rucksack, mit einem lauten Scheppern zu Boden, sodass sich alle die Ohren zuhielten.
Mit einem lauten Klirren rollten einer Mitarbeiterin des Museums ein paar Münzen entgegen. Sie hatte wegen des ganzen Krachs ihre Führung unterbrochen und kam herbeigeeilt.
„Das sind doch die römischen Silbertaler!“, stellte sie entsetzt fest. „Was machen die denn in Ihrem Rucksack? Wer sind Sie überhaupt?“ Durch den Aufprall war der Reißverschluss des Rucksacks immer weiter aufgeplatzt, und neben den Silbermünzen kamen nun auch die wertvollen Trophäen und Pokale aus der Vitrine zum Vorschein.
Frau Blumenthal zählte in Gedanken eins und eins zusammen und rief in die Runde: „Sind Sie etwa der gesuchte Juwelendieb?“
Im nächsten Moment drückte die Mitarbeiterin den Alarmknopf an der nahestehenden Säule, und alle Ausgänge des Museums wurden automatisch geschlossen. Nun war ein Entkommen bis zum Eintreffen der Polizei nicht mehr möglich. Der Dackel schaute zufrieden zu Frau Blumenthal hoch.
Wieder zu Hause angekommen waren beide von dem aufregenden Nachmittag sichtlich erschöpft. Frau Blumenthal war voller Lob und konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Schließlich konnte der Dieb nur durch Walters hervorragende Spürnase gefunden und gefasst werden.
Als Belohnung für den Dackel nahm sie ein paar Würstchen und legte sie auf die Holzbank unter dem alten Apfelbaum. „Komm her, Walter!“, rief sie den Dackel freudig zu sich. „Diese Leckerbissen hast du dir heute nun wirklich verdient!“ Sie tätschelte ihm stolz den Kopf und genoss die warme Nachmittagssonne.
Erneut wurde die Aufmerksamkeit der beiden von etwas Glänzendem geweckt. Frau Blumenthal stand von der Bank auf und hob einige funkelnde Fetzen Silberfolie vom Rasen auf. Außerdem lagen dort eine silberne Konservendose und ein paar Streifen altes Lametta.
Sie sah nach oben zum alten Apfelbaum. „Sieh nur Walter. Die Elster scheint da oben gerade fleißig ihr Nest auszupolstern. Von der Sonne angestrahlt könnte man ja fast denken, es sei edler Schmuck!“ Amüsiert sammelte Frau Blumenthal die Schätze der Elster zusammen und legte sie sorgsam auf einen Baumstumpf. „Vielleicht kann sie es ja noch gebrauchen“, sagte sie zu Walter.
Der Dackel schaute jetzt zum Küchenfenster, das noch immer offen stand und entdeckte dann auf dem Rasen das Diadem. „Also hatte die Elster das Diadem gar nicht gestohlen, sondern es muss durch einen Windstoß aus dem Fenster gefallen sein“, stellte Walter erschrocken fest.
Er sah nach oben in den Baumwipfel und betrachtete die Elster dabei, wie sie mit ihrem Schnabel unermüdlich etwas in ihrem Nest befestigte. „Tut mir leid, liebe Elster. Ich habe dich zu Unrecht verdächtigt! Eine Diebin bist du nun wirklich nicht.“
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