
Ein paar Touristen kämpften sich mühsam durch den Schlick im Wattenmeer. Sie waren sofort aufgebrochen, nachdem sich das Wasser langsam Richtung Horizont zurückgezogen hatte.
„Typischer Anfängerfehler“, schmunzelte Schaf Tilda, die gerade ein paar saftige Grashalme auf dem Deich verspeiste. Sie beobachtete die Wattwanderer oftmals mit großem Vergnügen.
Manchmal schlossen die Schafe untereinander auch eine Wette ab, welcher der Touristen wohl als erstes einen bunten Gummistiefel im Watt verlieren würde.
Doch heute war Tilda ein wenig abgelenkt. Bereits am frühen Morgen hatte sie entdeckt, dass die Pforte zum Apfelhof offen stand.
Noch nie zuvor hatten Tilda oder die anderen Schafe den alten Bauernhof betreten, da der Bauer immer sehr genau darauf achtete, die Pforte gut zu verschließen.
„Köstlich sehen sie aus, mmh!“, dachte Tilda und lief den Deich herunter. Nun stand sie direkt vor dem Zaun. Ein knorriger, alter Ast war mit so vielen roten Äpfeln behangen, dass er fast abzubrechen drohte.
„Noch ein paar Tage und die Äpfel werden sicherlich auf der Wiese landen“, überlegte Tilda. Doch je länger sie die knackigen Früchte ansah, umso mehr lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

„Ich kann ja mal nachsehen, ob einige Äpfel schon auf den Boden gefallen sind. Die wird der Bauer sicherlich nicht vermissen“. Und so begab sie sich vorsichtig zum Tor.
Nachdem sie niemanden entdecken konnte, verschaffte sie sich einen Überblick über die kleine Apfelplantage und suchte hungrig nach heruntergefallenen Äpfeln.
Doch es war vergebens. Tilda war enttäuscht. Da war das Tor ein einziges Mal offen und sie konnte keinen Apfel probieren.
Da kam ihr plötzlich eine Idee. Neben dem alten Traktor standen einige alte Holzkisten. „Wenn ich diese Kisten aufeinanderstapele, könnte ich sicherlich an die Äste herankommen!“.
Tilda versuchte mit ihrer Nase die Kisten zu verschieben. Doch sie waren einfach viel zu schwer. „Ich brauche Hilfe und ich weiß auch schon, wo ich sie finde“.
Sie machte sich auf den Rückweg zur Herde und erzählte allen Schafen von ihrer Entdeckung und ihrem Plan. Gemeinsam überlegten sie, wie sie die leeren Kisten gemeinsam als Leiter benutzen könnten und so an die leckeren Äpfel kämen.
Leise und möglichst unauffällig bewegte sich die gesamte Schafherde auf den Apfelhof zu. Gemeinsam stapelten sie die Kisten unter den Baum mit den schwersten Ästen.
Dort hingen die reifsten und größten Früchte und die Schafe genossen jeden einzelnen Bissen. So ging es nun Tag für Tag. Das Tor blieb einfach offen.
Doch an einem Morgen stellte Tilda fest, dass nur noch sehr wenige Äpfel an den Bäumen hingen. Träge und satt gefressen legte sie sich vor den Zaun.
Plötzlich wurde sie von einem lauten Motorengeräusch aufgeschreckt. Im Nu stand sie auf und reckte ihren Kopf über den Zaun. Sie sah, dass der Apfelbauer zurück war und gerade mit der Schubkarre zu seinen Bäumen gehen wollte.
Tilda konnte beobachten, dass er sich plötzlich an die Stirn fasste und mit jemandem sprach. Sie konnte aber nicht erkennen mit wem.
„Oh je. Wo sind denn all meine Äpfel hin?“. Dann sah er sich um und richtete plötzlich den Blick auf die offene Pforte. Er lief auf die Obstbäume zu und sah die vielen angeknabberten Apfelreste auf dem Boden.
„Meine ganze Ernte ist dahin. Wer hat mir das nur angetan? Dieses Jahr kann ich wohl kaum das Apfelfest ausrichten!“ Der Bauer machte einen traurigen und verzweifelten Eindruck. So hatte Tilda ihn noch nie erlebt.
„Oh je, was habe ich bloß angerichtet?“, dachte sie und beobachtete aus der Ferne die anderen trägen Schafe. Erst jetzt wurde ihr die Tragweite deutlich.
Der Bauer hatte nun keine Äpfel mehr, die er auf dem Wochenmarkt verkaufen konnte. Und scheinbar wollte er dieses Jahr das berühmte Apfelfest ausrichten. Doch ohne Äpfel, kein Fest. Das verstand auch Tilda.
Tilda tat der Bauer sehr leid. „Ich muss mir schnellstens überlegen, wie ich das wieder in Ordnung bringe“, dachte sie. Da fielen ihr die Worte ihrer Großmutter ein. „Wer einen Schaden anrichtet muss ihn auch beheben!“
Sie schaute gedankenversunken auf die Herde. Dabei entdeckte sie ihre Freundin Mariella. Sie war das schönste Schafmädchen in der Herde und genoss es sichtlich von allen bewundert zu werden.
Ihre Wolle glänzte seidig und fühlte sich sehr weich an. Mariella betrachtete sich gern in den Pfützen und Gräben und hatte immer wieder neue Ideen, wie sie sich schmücken könnte.
Sie liebte es, wenn ihr Fell länger nicht geschoren wurde. Dann bat sie Tilda manchmal darum, ihr ein paar Zöpfe einzuflechten. Danach wellte sich ihr Fell noch schöner als zuvor.
Oder sie sammelte Beeren, zerstampfte sie und ließ sich die Farbe in ihr Fell einfärben. Heute hatte Mariella grüne, rosa und lila Streifen in ihrem Fell. „Wie sie das wohl wieder angestellt hatte?“, fragte sich Tilda fasziniert.
Dabei schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: „In diesem Jahr wurde uns die Wolle noch gar nicht geschoren. Normalerweise findet die Schur im Hochsommer statt, und einige Schafe wären ihre dicke Wolle gern los.“
Bei der Betrachtung ihrer Freundin, fiel Tilda plötzlich die geniale Lösung ein. „Ja, genau das ist es! Die Lösung ist unsere Wolle… Dass die Schur noch nicht stattgefunden hat, passt ja ausgezeichnet. Wir werden sie als Wiedergutmachung dem Bauer schenken.“
Tilda lief alle Schafe der Herde ab und berichtete ihr von dem traurigen Bauern, der nun keine Ernte mehr hatte und davon, wie sie es gemeinsam wieder gut machen könnten.
Die Schafe waren sofort begeistert von der Idee und waren dazu bereit, Tilda bei ihrem Plan zu unterstützen.
Besonders Mariella war voller Eifer und wollte unbedingt dabei helfen, die Wolle so schön wie möglich zu gestalten. Ihr Wissen, über das Flechten und Färben konnte sie nun mit den anderen Teilen.
Sie begannen untereinander eine Aufgabenteilung zu organisieren. Sabine, das älteste Schaf, erklärte sich dazu bereit, die Schur zu übernehmen.
Etliche Jahre hatte sie beobachtet, wie die gesamte Herde geschoren wurde. Sie schaute in die Runde und meinte: „In dem Unterschlupf, den wir bei Regen nutzen, habe ich große Körbe gesehen, in einem davon lag eine Schere. Mit ein wenig Übung werde ich das schon hinbekommen“.
Zuversichtlich nickten die anderen Schafe und verteilten untereinander weitere Aufgaben. Mariella ordnete an, dass Beeren und Kräuter gesammelt werden müssen, um daraus Farbe anzurühren. Andere sollten die Wolle nach der Schur einsammeln, einfärben, sortieren und abschließend die Körbe damit füllen.
Tilda stellte sich als erste zur Verfügung und fand es recht angenehm, von der dicken Wolle befreit zu werden. Als ihre Wolle erfolgreich zu Boden fiel, war die Angst der anderen Schafe verschwunden und die Herde reihte sich brav in der Schlange zu Sabines Schur ein.
Sabine machte es recht geschickt und hielt die Schere sicher in ihren Klauen. Sie schnitt ganz vorsichtig und trennte auch nicht die ganze Wolle ab, denn der Schäfer sollte es ja nicht bemerken. Alle Tiere sahen jetzt zwar etwas zerrupft aus, aber die Wolle wuchs ja wieder nach, trösteten sie sich.
Sie brauchten fast zwei Tage, bis alle Körbe mit der schönen Wolle gefüllt waren. Danach luden sie die schwere Fracht auf einen alten Anhänger, der ungenutzt am Gatter stand. Gemeinsam rollten sie ihn mit geballter Kraft zum Apfelhof.
Erst in der Abenddämmerung luden sie ungestört die gefüllten Körbe ab, wickelten die Wolle sorgsam zu ordentlichen Ballen zusammen und stellten sie unter die größten Apfelbäume ab, um sie vor Wind und Regen zu schützen. Die Körbe brachten sie zurück und warteten gespannt auf den nächsten Tag.
Als der Apfelbauer am nächsten Morgen endlich auf dem Feld erschien, entdeckte er die ordentlich aufgereihten Ballen.
Neugierig kam er näher und betrachtete die flauschig weichen Objekte. „Was ist denn das?“, fragte er sich zunächst etwas skeptisch und warf dann einen Blick zu den anderen Bäumen.
Er lief nun auf dem Feld auf und ab und stellte bei jedem Ballen fest, dass einer schöner war, als der andere. Einen kurzen Moment hielt er inne.
Doch dann hörte Tilda ihn laut rufen: „Ich habs: Zwar habe ich dieses Jahr nicht viele Äpfel, die ich verkaufen kann, aber dafür die schönste Wolle in den tollsten Farben. “
Er warf einen Blick über den Zaun und sah in der Ferne die Schafherde dösen. „Ich kann es mir nicht erklären, aber auf euch war schon immer Verlass!“
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