
Auf einem Regal in einer alten Werkstatt stand eine besondere Flasche. In ihr steckte ein hölzernes Schiff mit strahlend weißen Segeln und gehisster Flagge.
Doch das kleine Schiff war überhaupt nicht glücklich. „Wie bin ich nur hier in dieser engen Flasche gelandet?“, fragte sich das Schiff immer wieder, während es sich Tag ein, Tag aus gegen die Glaswand drückte.
Eines Tages kam der alte Kapitän Henry in seine Werkstatt, um seine Flasche abzustauben. „Ach, mein treues Schiff!“, sagte er sanft und klopfte liebevoll gegen das Glas. „Du hast mit mir so viele Abenteuer erlebt, aber leider sind diese Zeiten schon längst vorbei.“
Der alte Kapitän legte eine Sprechpause ein und seufzte. So als hätte er auf eine Antwort aus dem Inneren der Flasche gewartet. „Immerhin bist du jetzt bis in alle Ewigkeiten bei mir in dieser Flasche. Hier kann dir ganz sicher nichts passieren.“
Er tätschelte noch einmal die Flasche und ging dann langsam und an seinem Holzstock gestützt zur Kellertreppe. „Nein – geh bitte nicht!“, wollte das Schiff sagen. „Hier ist es so schrecklich langweilig.“ Doch Henry war bereits verschwunden.
Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen die Werkstatt erhellten, wurde das kleine Schiff plötzlich hellhörig. Ein kleiner Junge namens Fritz betrat den Raum.
Seine Augen leuchteten, als er die Flasche mit dem Schiff entdeckte. „Wow!“, rief er begeistert. „Ein echtes Piratenschiff! Gehört das etwa dir, Opa?“

Fritz konnte seinen Blick nicht von der Flasche abwenden. Er stellte sich vor, wie das Schiff wilde Wellen bezwang und verborgene Schätze fand.
Doch dann runzelte er die Stirn. „Warum ist das Schiff in einer Flasche gefangen?“, fragte er. Nun kam auch Henry in die Werkstatt. Er lächelte wehmütig. „Na du stellst vielleicht Fragen. Damit es nicht verloren geht, natürlich!“
In dieser Nacht, als alles still war, kam Fritz erneut in die Werkstatt. Er kam ganz nah an die Flasche heran und meinte ein Schluchzen darin zu hören.
„Ich weiß, warum du traurig bist“, flüsterte er. „Du würdest doch ganz bestimmt viel lieber auf dem Meer umher segeln, oder?“ Das Schiff nickte. Es wusste nicht, ob Fritz es verstehen konnte, aber es war ein gutes Gefühl, sich überhaupt mit jemandem unterhalten zu können.
Am folgenden Tag hatte Fritz eine Idee und ging erneut mit seinem Opa in die Werkstatt. „Kannst du mir bitte eine Geschichte von dir und diesem Schiff erzählen? Ich möchte wissen, was ihr gemeinsam erlebt habt und welche Meere ihr erkundet habt.“ Henry nahm die Flasche in die Hand, setzte sich auf seinen Sessel und begann zu erzählen.
„Wow! Das klingt so spannend, Opa. Ich wünschte, ich könnte sowas auch mal erleben.“ Fritz war ganz euphorisch und auch der alte Henry schwelgte nun in den Erinnerungen. „Ja, ich wäre auch gern wieder da draußen. Nur ich und mein Schiff.“
„Opa, meinst du das Schiff ist glücklich da drin?“ Fritz zeigte auf die Flasche! Henry sah seinen Enkel verwundert an: „Wie meinst du das, mein Junge?“
„Naja du würdest doch auch lieber wieder raus aufs offene Meer. Ich finde das Schiff wirkt irgendwie nicht glücklich in dieser Flasche.“ Der alte Kapitän runzelte die Stirn und dachte nach.
„Du bist ein schlauer Junge!“ sagte Henry plötzlich. „Dieses wunderbare Schiff hat es nicht verdient in dieser Flasche gefangen zu sein. Ich hatte es bisher nie so betrachtet. Aber jetzt, beim genauen Hinsehen, sehe ich es auch. Es wirkt sehr traurig.“ Im Inneren der Flasche war das Schiff überglücklich; endlich kam ihm jemand zur Hilfe. Doch es musste sich noch gedulden.
“Bevor ich es mir anders überlege … zieh dich an, wir gehen zum Hafen!“ Ohne zu wissen, was Henry vorhatte, flitzte Fritz eilig zur Garderobe, zog sich seine Gummistiefel und seinen Mantel an und wartete an der Treppe auf seinen Opa.
Als die beiden am Hafen ankamen, übergab Henry plötzlich die kostbare Flasche an seinen Enkel. „Hier, lass du mein Schiff in die Freiheit. Du hast es schließlich vor meinem Starrsinn gerettet.“
Fritz war aufgeregt. Mit einem vorsichtigen Ruck entfernte er den Korken und hielt die Flasche ins Wasser. Das Schiff glitt vorsichtig aus seinem gläsernen Gefängnis und landete sanft auf den Wellen.
Doch plötzlich passierte etwas Sonderbares, gar Magisches. Das Schiff wirkte viel größer als eben noch in der Flasche. Seine Segel blähten sich im Wind auf und die Fahne flatterte stolz.
Es drehte eine elegante Runde im Meer und schickte ein freundliches Lächeln an Fritz. „Segel los und pass auf dich auf!“, rief Henry ermutigend und etwas wehmütig zugleich. Das Schiff nahm Fahrt auf, als wäre es nie in einer Flasche gefangen gewesen und verschwand am Horizont.
„Das war wohl die richtige Entscheidung“, sagte er und legte eine Hand auf Fritz’ Schulter. „Ein Schiff gehört aufs Wasser. Das hätte ich am besten wissen müssen.“
Mit einem letzten Blick verabschiedete sich der alte Kapitän von seinem Schiff und Fritz erkannte, dass nun auch sein Opa glücklicher war.
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