
Es war noch früh am Morgen und eine frische Brise wehte Möwe Erwin durch das Gefieder. Erwin saß wie immer auf seinem Lieblingsplatz am Hafen. Die Sonne lugte vorsichtig durch die Wolken und einige Möwen und Schwalben kreisten über dem offenen Meer.
Ein verlockender Geruch von Rührei und Matjesbrötchen lag in der Luft. Gerade wollte sich Erwin zu den Krabbenständen aufmachen, als ein tiefes Rumpeln die Hafenmauer erzittern ließ.
Ein riesiges Containerschiff schob sich langsam in den Hafen – größer als alle, die Erwin je zuvor gesehen hatte. Neugierig wie er war, flog er sofort los, um sich das Ungetüm aus der Nähe anzusehen.
Als er den Koloss erreichte, fühlte er sich plötzlich winzig klein. Zwischen den riesigen Containern, glitschigen, nassen Decks und dem unheimlichen Klackern der Kräne verlor er schnell die Orientierung und war froh, als er sich an einer mächtigen Eisenleiter festkrallen konnte.
„Was für ein Monstrum von Schiff!“, murmelte Erwin beeindruckt und hüpfte nun zwischen den Containern herum. Er roch fremde Gerüche und hörte verschiedene Sprachen. Ganz versunken in seine Entdeckungstour merkte er gar nicht, wie sich das Schiff langsam und fast lautlos vom Kai löste.
Erst als das Motorengeräusch lauter wurde und der Hafen kleiner wurde, kehrte Erwins Aufmerksamkeit zurück. Er riss die Augen auf. „Oh nein! Ich bin noch an Bord!“ Panisch flatterte er in die Luft, doch der Hafen war schon zu weit entfernt. Viel zu weit!
Erwin war unruhig. Ihm als erfahrenen Seevogel war so etwas noch nie passiert. Um erst einmal möglichst unentdeckt zu bleiben, versteckte er sich zwischen zwei großen Containern. Die Aufschrift auf dem Bug sah er erst jetzt: „Sao Mangai – Fernost-Linien“. „Fernost?! Was habe ich mir dabei nur gedacht?“, Erwin wurde heiß und kalt zugleich.

Die ersten Tage auf See waren ruhig, fast zu ruhig. Doch dann zog ein heftiger Sturm auf. Wellen schlugen über das Deck und Erwin klammerte sich zitternd an ein dickes Seil – in der Hoffnung auf dem rutschigen Boden nicht wegzugleiten.
„Ich hätte zu Hause bleiben sollen“, murmelte er. Doch als sich die See wieder beruhigte, war auch sein Mut zurück.
Bei einem Rundflug entdeckte er plötzlich Bewegungen zwischen den Containern: Eine schmale, flinke Ratte mit einem gebogenen Ohr huschte vorsichtig über das Deck. „Pst! Ich bin Raffi“, flüsterte sie. „Bist du etwa auch ein blinder Passagier?“ Dabei musterte sie Erwin genau.
Erwin nickte. Er war wohl nicht der einzige Abenteurer an Bord.
Wenig später traf er auch noch auf Morti, die getigerte Schiffskatze. Sie ließ sich nichts gefallen – schon gar nicht von einer Ratte oder einer Möwe. Als bei einem weiteren Sturm einige Fische über Bord gespült wurden, gerieten Erwin und Morti mächtig aneinander.
„Das ist meiner!“, krächzte Erwin, der seit Tagen nichts Richtiges zu fressen bekommen hatte. „Vergiss es!“, fauchte die alte Katze und fuchtelte gefährlich mit ihren scharfen Krallen umher. Am Ende schnappte sich Raffi die Hälfte, und der Rest wurde zähneknirschend geteilt.
Am Fenster zur Kombüse traf Erwin auf den freundlichen Schiffskoch, der ihm wortlos eine Schale mit Wasser und Fisch hinstellte. „Na, du neugieriger kleiner Kerl“, schmunzelte der bärtige Mann. „Scheinst dich hier ja ganz gut zurechtzufinden.“ Und Recht hatte er. Erwin fühlte sich mittlerweile fast schon ein bisschen, wie zu Hause.
Doch Raffi wirkte nervös. „Irgendwas stimmt nicht auf diesem Schiff“, sagte sie eines Nachts zu Erwin. „Ich hab zwei Matrosen beobachtet, die sich immer heimlich an einem bestimmten Container treffen.“
Erwin hörte gespannt zu und wurde neugierig. Gemeinsam mit Morti beschlossen die drei in dieser Nacht Wache zu halten und das Treiben der Matrosen zu beobachten. Und tatsächlich – auch in dieser Nacht, als fast alle schliefen, trafen sich zwei Matrosen erneut an Container Nr. 74. Sie flüsterten sich etwas zu, tauschten Papiere aus und trugen kleine Päckchen davon.
„Da stimmt was nicht!“, zischte Erwin.
„Vielleicht Schmuggel?!“, miaute Morti.
„Wir müssen was tun!“, pfiff Raffi aufgeregt.
Sie heckten einen Plan aus: In der nächsten Nacht legten sie sich erneut auf die Lauer. Kaum erkannten sie die Matrosen am Container, begannen die drei mit einem riesigen Spektakel. Erwin flatterte wild durch die Luft und schrie wie am Spieß, Raffi kreischte durch ein leeres Rohr und Morti kratzte mit ihren langen Krallen an den Containern, sodass man sich die Ohren zuhalten musste.
Der seltsame Krach blieb nicht unbemerkt und im Nu kamen einige Decksmänner mit ihren Taschenlampen zum Ort des Geschehens. „Halt, Stopp! Keiner bewegt sich!“, riefen die Männer laut.
Nun stürmte die Crew an Deck – der Kapitän vorneweg. Im Licht der Taschenlampen wurden die beiden Matrosen am Container erwischt – samt verdächtigem Inhalt. Der Kapitän war fassungslos. „Grundgütiger Himmel! Morti! Wie habt ihr das nur entdeckt?“
Fassungslos sah der Kapitän zuerst seine Schiffskatze, die Ratte und die Möwe an und blickte dann seinen beiden Matrosen in die Augen. „So etwas dulde ich auf meinem Schiff keine weitere Minute mehr. Sobald wir an Land sind, werde ich euch zur Rechenschaft ziehen.“
Ein paar Tage später war endlich wieder Land in Sicht. Erwin saß auf einem roten Container und sah zum ersten Mal grüne, saftige Palmen, die sich am Horizont entlangreihten. Die Sonne brannte vom Himmel, die Luft war feucht und schwer. Vögel sangen fremde Melodien, Boote tanzten in der tropischen Bucht. Es war wunderschön.
Doch Erwin war müde. Und ihm war heiß. Viel zu heiß.
„Ich will nach Hause“, flüsterte er leise.
Am Kai drehte sich der Kapitän zu ihm um. „Du warst eine große Hilfe, danke!“, sagte er. „Wenn du magst, nehmen wir dich wieder mit. Du vermisst sicherlich deine Heimat, oder? Wir legen in zwei Tagen wieder ab.“ Erwin strahlte. „Und ob!“
Als die „Sao Mangai“ Wochen später wieder in den Hafen einlief, kreisten die Möwen schon aufgeregt über dem Wasser.
„Ist das…? Erwin?!“
„Er ist zurück!“
Erwin drehte eine Ehrenrunde über dem Leuchtturm, landete dann auf seinem alten Platz und blickte hinaus aufs Meer. Er war fort gewesen. Er hatte Fernost gesehen.
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