
In der Tiefe des Ozeans lebte eine große, alte Krake namens Tortella. Mit ihren langen kräftigen Armen konnte sie mühelos durch das Wasser gleiten und jedes noch so abgelegene Versteck in den Tiefen des Meeres erreichen.
Tortella machte die Dunkelheit in der Tiefsee nichts aus. Sie konnte sich gut orientieren und hatte vor nichts und niemandem Angst. Wer sollte einer so starken und majestätisch anmutenden Krake auch zu nahe kommen wollen?
Die anderen Meeresbewohner bekamen Tortella nur selten zu Gesicht. Zu dunkel, zu kalt, zu unheimlich fanden sie es in ihrer Umgebung. Und obwohl die anderen Bewohner sie nur selten sahen, wurden immer und immer wieder Geschichten über sie erzählt.
So munkelte man, dass Tortella mal einen ganzen Kugelfisch verschlungen hat und ihr die spitzen Stacheln gar nichts ausmachten. Auch soll sie mit ihren kräftigen Armen mühelos einen riesigen Felsbrocken verschoben haben, um sich darunter eine Höhle zu suchen.
Doch besonders beliebt war die Geschichte über Tortellas verborgenen Schatz. Diese Geschichte wurde den Kindern von ihren Eltern bei jeder Gelegenheit erzählt. Sie war spannend und auch ein bisschen unheimlich zugleich.
Da jeder die Geschichte ein bisschen anders erzählte, sorgte sie noch immer für ein aufregendes Staunen. Niemand hatte den Schatz je gesehen und erst recht wusste keiner der Tiere, was Tortella in der großen Truhe hütete.
Ein kleiner Zackenbarsch überlegte: „Es könnten Perlen sein, so groß wie ein Seeigel.“ „Oder sie versteckt dort unten Edelsteine, die im Dunkeln leuchten!“, flüsterte ein Seestern, während er sich sicherheitshalber an einem Felsen festhielt.

Die Neugierde unter den Kindern wuchs Jahr für Jahr. Sie alle wollten zu gerne herausfinden, was Tortella dort unten in der Tiefe des Meeres trieb und weshalb sie ihren Schatz so sehr behütete. Denn Sorge davor, ihn zu verlieren, musste sie eigentlich nicht haben.
„Wer sollte sich mit einer riesigen Krake wie ihr denn anlegen wollen?“ „Denkt gar nicht erst daran, Tortella einen Besuch abzustatten“, sagte eine alte Anemone. Sie wankte seicht in der Meeresströmung und ergänzte dann: „Für Tortella ist es ein Leichtes, kleinen Fischen wie euch den Garaus zu machen.“
Sie sagte es in einem Flüsterton und verbreitete dabei eine angsteinflößende Stimmung. Die Rückenflossen der kleinen Fische stellten sich auf, weil sie sich so sehr gruselten.
Tortella bekam von alledem nichts mit. Sie verließ ihre Höhle nur selten. Ab und zu war sie gezwungen Nahrung zu suchen und auf die Jagd zu gehen.
Ansonsten machte sie es sich gemütlich und wartete. Worauf wusste sie selbst nicht so genau. Mit den Jahrzehnten hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass sich jemand zu ihr in die Tiefe des Meeres begibt.
Jeder Tag glich dem anderen, doch Tortella machte die Einsamkeit nichts aus. Nichtsahnend döste sie auf ihrer Schatztruhe, die sie seit über hundert Jahren sorgfältig bewachte.
Unterdessen machte sich am frühen morgen Elwi das Seepferdchen auf den Weg in die Tiefe des Meeres. Sie war ein mutiges Mädchen und fürchtete sich nicht vor den Erzählungen, die sich um Tortella rankten.
Bisher war es ihr jedoch noch nie gelungen unbemerkt der Gruppe zu entkommen. „Wenn sich kein anderer traut herauszufinden, was Tortella dort unten behütet, dann werde ich eben diejenige sein“, nahm sie sich mutig vor.
Sicherheitshalber hatte sie sich jedoch die Unterstützung einer Gruppe von Leuchtquallen gesichert. Denn die Dunkelheit bereitete ihr am meisten Sorge. Elwi brach am späten Nachmittag umringt von den leuchtenden Quallen auf Richtung Tiefsee.
Gemeinsam tauchten sie immer weiter hinab in die Tiefe des Meeres. Sie wusste, dass die Quallen ein leichtes Gift in ihren Tentakeln haben und sie sich in ihrer Gegenwart sicher sein konnte.
Als sie endlich am Meeresgrund ankamen, suchten sie gemeinsam die Felsvorsprünge ab. Doch die Suche schien zunächst vergeblich zu sein. Die Steine und Felsen sahen alle gleich aus. Einen Eingang zu Tortellas Höhle konnten sie nirgends finden.
Doch dann hörte Elwi ein unbekanntes Geräusch. „Was ist denn das?“, überlegte sie angestrengt. Elwi vermutete, dass das Pusten und Ächzen aus der Richtung des Korallenriffs kam. Im Nu schwärmten die Leuchtquallen in alle Richtungen aus und erleuchteten das bunte Riff in den schönsten Farben.
„Es ist wunderschön!“, murmelte Elwi. Sie war überwältigt von dem schönen Ort, der ansonsten umringt von der Dunkelheit, trist und einsam wirkte. Dann wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Plötzlich kamen die Quallen auf sie zu. „Wir haben sie gefunden, wir haben die Höhle gefunden“, riefen sie aufgeregt im Chor.
Elwi fasste all ihren Mut zusammen. „Jetzt oder nie!“, beschloss sie und gab den Leuchtquallen ein Zeichen ihr in die Höhle zu folgen. Überrascht stellte sie fest, dass es im Inneren der Höhle gar nicht so unheimlich war, wie sie es sich zuvor ausgemalt hatte.
„Hier lebt Tortella also und hütet ihr Geheimnis“, dachte Elwi. Als das Geräusch immer lauter wurde, lugten sie vorsichtig um die Ecke der verwinkelten Höhle. Da war sie. Eine mächtige lila Krake, die auf einer riesigen schweren Truhe lag und scheinbar fest schlief und dabei ohrenbetäubenden laut schnarchte. „Das ist also Tortella,“ flüsterte Elwi zu den Quallen.
Im Nu klappten die Augen der alten Krake auf. Überrascht über ihre kleine Besucherin und die leuchtende Begleitung, schüttelte sie sich kräftig, sodass ihre mächtigen Arme in alle Richtungen schlugen. Vorsichtig wichen Elwi und die Quallen einige Schritte zurück.
„Nun warte ich etliche Jahre auf neugierigen Besuch, der sich meinen Schatz ansehen will, und wen finde ich vor? Ein Seepferdchen und ein paar Leuchtquallen! Du musst wirklich ein mutiges Kind sein und Angst ist dir anscheinend kein Begriff.“
Tortella umkreiste die Höhleneindringlinge und stupste einige der Leuchtquallen nacheinander an. Sie begannen zu zittern und zu schlottern und wären am liebsten schnellstmöglich aus der Höhle geflohen. „Habt keine Sorge!“, sagte Elwi mit ruhiger Stimme. „Ich bin mir sicher, dass uns nichts passieren wird.“
„Soso“, brummte Tortella. „Ihr kommt also her, weckt mich aus meinem Schlaf und glaubt, ihr könnt euch einfach meinen Schatz ansehen und womöglich auch noch mitnehmen?“ Stirnrunzelnd wartete sie auf die Reaktion der Fremden.
Tortella ließ sich dabei nicht anmerken, dass sie Elwi und ihre Begleitung nur auf die Probe stellen wollte. Das kleine Seepferdchen überlegte unterdessen hektisch, was sie der Krake entgegnen sollte. Um ehrlich zu sein, hatte sie gar keinen konkreten Plan gehabt. Sie war einfach neugierig und wollte herausfinden, ob die vielen Geschichten über den Schatz und die alte Krake stimmten.
„Es war ganz allein meine Idee“, stotterte Elwi etwas nervös. „Die Leuchtquallen habe ich dazu überredet, weil ich mich in der Dunkelheit nicht gut genug orientieren könnte.“
Tortellas Gesichtszüge hellten sich auf. Nun legte sie ihre Arme sanft auf die Kiste. „Es stimmt. Ich hüte einen Schatz,“ sagte sie leise. „Doch du wirst nicht das vorfinden, nachdem du vermutlich gesucht hast.“ Ein enttäuschtes Raunen war von den Leuchtquallen zu hören, doch Elwi ließ sich davon nicht entmutigen und näherte sich gespannt der großen Truhe.
Mit einer eleganten Bewegung öffnete Tortella die Kiste. Nun konnte Elwi einen Blick in das Innere werfen. Und tatsächlich. Es waren weder Gold noch Edelsteine und schon gar keine Perlen darin zu finden. Stattdessen befanden sich einige alte, vergilbte Pergamentrollen und ein riesiges Muschelhorn darin.
Elwi trat näher an die Truhe heran und betrachtete das alte Muschelhorn und die Pergamentrollen. „Das ist also der Schatz?“, fragte sie leise, und etwas enttäuscht.
Tortella nickte und sah das kleine Seepferdchen mit ihren weisen Augen an. „Du hast etwas anderes erwartet, stimmts? In dieser Truhe befindet sich kein Gold, keine Edelsteine, keine Perlen, sondern Hoffnung. Die Karten zeigen den Weg, den jeder gehen muss, um zu finden, was er wirklich braucht. Und das Horn ruft diejenigen, die diese Hilfe benötigen zu mir in diese Höhle.“
Elwi war beschämt. Sie war wie alle anderen von einem funkelnden, prächtigen Schatz ausgegangen. Sie hatte immer gedacht, Schätze müssten glänzen und funkeln. Aber dieser Schatz, der jenen half, die es wirklich brauchten, war viel kostbarer, als alles, was sie sich hätte vorstellen können.
„Der Schatz gehört also gar nicht dir allein? Wir alle dachten, dass du ihn bewachst, um ihn nicht teilen zu müssen.“
Tortella lächelte sanft und legte einen ihrer großen Arme behutsam um die zarte Elwi. „Manchmal ist das, was wir hüten, nicht für uns selbst bestimmt, sondern für diejenigen, die es am dringendsten brauchen.“
Elwi nickte und verabschiedete sich von Tortella. Gemeinsam mit den Leuchtquallen schwamm sie zurück nach Hause. Sie hatten sich zuvor ausgemalt, wie sie den anderen von ihren Entdeckungen berichten würden. Doch jetzt war alles anders. Elwi wollte niemandem davon erzählen. Wer den Schatz eines Tages wirklich brauchen würde, wird ihn auch finden, da war sie sich sicher.
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