
Der warme Sommerwind wehte durch das dichte Gefieder von Möwe Erwin. Er saß heute bereits am frühen Vormittag auf einer sonnigen Hafenmauer und beobachtete das fröhliche Treiben der vielen Touristen.
„Jedes Jahr zu dieser Zeit das gleiche Spektakel“, schmunzelte er amüsiert. Von seinem Aussichtspunkt aus hatte er den besten Überblick über den gesamten Hafen.
Während er genüsslich ein paar Krabben verspeiste, beobachtete er ein kleines Mädchen, das gerade eifrig damit beschäftigt war, die klebrigen Tropfen von ihrer Eiswaffel abzuschlecken. Neben ihr saß ein kleiner Hund, der gierig die Bratwurst seines Herrchens ergattern wollte.
„Hier könnte ich den ganzen Tag sitzen und einfach nur den Menschen zusehen“, murmelte er begeistert vor sich hin. Doch das ging natürlich nicht. Möwe Erwin war schließlich nicht nur zum Faulenzen im Hafen.
Als er sich aufgewärmt hatte und sich bereit für seinen Rundflug fühlte, erhob er sich galant von der Mauer, ließ sich gekonnt vom Wind treiben und gab ein paar laute Signale von sich. Viele Touristen holten nun ihre Fotoapparate hervor und versuchten Erwin, der durchaus eine fotogene Möwe abgab, fotografisch einzufangen.
„Wahrscheinlich sind alle Bilder am Ende unscharf, weil ich viel zu schnell für sie bin“, dachte er zufrieden und legte noch ein paar akrobatische Sturzflüge knapp über der Wasseroberfläche ein.
Nun konnte er ein „Oh“ und „Aaahhhh“ und „guck mal die Möwe mit der roten Mütze“ hören. Das gefiel Erwin am besten. Er stand gern im Mittelpunkt und genoss die volle Aufmerksamkeit.

Aus der Luft konnte er den kleinen Ausflugsdampfer sehen. Die Besatzung machte sich gerade startklar und erledigte die letzten Vorbereitungen.
Meistens fuhr das Schiff mit seinen Passagieren zum nahegelegenen Leuchtturm und der Kapitän erklärte nebenher ein bisschen über die Gezeiten und die heimischen Vogel- und Fischarten.
Erwin hatte sich das Geplauder ab und zu vom Dach des Ausflugsdampfers angehört. Als der Kapitän jedoch über die Gewohnheiten der heimischen Möwen berichtete und sie sogar als kleine Diebe von Fischbrötchen und ganzen Pommestüten betitelte, konnte Erwin allerdings nur den Kopf schütteln und genervt davonfliegen.
Gerade als er es sich auf einem Segelmast einer kleinen Jolle bequem machen wollte, hörte er plötzlich einen kratzigen Funkspruch. Er musste sich richtig anstrengen, um genau zu verstehen, um was es ging.
Doch dann verstand er, was der Ausflugsdampfer als Funk empfangen hatte. „Ihr müsst unbedingt früher als geplant rausfahren … nordwestlich vom Leuchtturm habe ich einige Wale gesichtet. Ich denke, ihr könnt heute den doppelten Ticketpreis verlangen. Wenn ihr nah genug ranfahrt, dann lassen sich bestimmt gute Fotos machen.“ Der Funkspruch endete abrupt.
„Hmmm … wer hatte den Spruch wohl abgegeben, um dem Kapitän des Ausflugsdampfers ein lukratives Angebot zu ermöglichen?“ Erwin hielt Ausschau und entdeckte ganz weit am Horizont, nordwestlich vom Leuchtturm einen kleinen Fischkutter.
„Ich muss dahin, bevor die anderen dort sind“, beschloss Erwin. Im selben Moment hörte er den Matrosen bereits rufen: „Heute die einmalige Chance! Ausflugsfahrt zum Leuchtturm und ihr werdet Wale sehen!“
Erwin machte sich sofort auf den Weg. Wale waren hier seines Wissens sehr selten zu entdecken und wenn sie sich hierher verirrt hatten, dann brauchten sie Hilfe und auf keinen Fall lästige Ausflugsdampfer, die sie nur noch mehr verunsicherten. Er flog so schnell er konnte und erreichte endlich den Kurs, den er im Funkspruch gehört hatte.
Und tatsächlich: Zwischen der Gischt konnte er einige Rücken- und Schwanzflossen entdecken. Er flog so tief wie möglich, ohne dabei zu riskieren, selbst von den Wellen erfasst zu werden. Als einer der Wale auftauchte, um dann wieder ins Wasser zu gleiten, fragte Erwin, weshalb sie hier seien.
„Wir haben den falschen Weg eingeschlagen. Die Strömung war wärmer als gewohnt und nun sind wir hier. Wir wissen noch nicht, wie wir die Bucht wieder verlassen können.“
Erwin hatte Mitleid. Er erkannte, dass einige Wale Nachwuchs hatten und machte sich nun Sorgen, da ihre Eltern scheinbar die Orientierung verloren hatten. „Ich muss mir was einfallen lassen“, dachte er sich. „Ihr bleibt hier und ich kümmere mich um den Rest!“, rief er den Walen zu.
Entschlossen flog er so schnell er konnte zurück, Richtung Festland. Als er sich dem Hafen wieder näherte, sah er bereits etliche Touristen, die sich über die Rampe zum Ausflugsdampfer quetschten.
„Wahrscheinlich wollten sie alle schnellstmöglich auf das Oberdeck, um die beste Aussicht zu haben. Hoffentlich fällt bei der Hektik keiner von ihnen ins Wasser“, grübelte Erwin. „Aber darum kann ich mich jetzt nicht auch noch kümmern.“
Er landete auf dem Funkmast des Dampfers und überlegte angespannt, wie er den Walen am besten helfen könnte. „Ich muss den Kapitän ablenken… den Walen Zeit geben“, grübelte er. Doch wie sollte er das nur anstellen?
Er flog hinunter zur Kapitänsbrücke und sah, dass das kleine Fenster geöffnet war. Nur einen Augenblick später hüpfte er hindurch und stellte erstaunt fest, dass der Kapitän weit und breit nicht zu sehen war.
Erwin sah sich die Geräte an und entdeckte dann den Kompass und die Apparatur, mit der man den Kurs festlegen konnte. „Ich habe die Lösung!“, stellte Erwin begeistert fest. „Ich werde mir einfach einen kleinen Scherz erlauben.“
Zu seinem Erstaunen hatte der Kapitän bereits den im Funkspruch mitgeteilten Nordwestkurs eingestellt. Erwin drehte mit ganzer Kraft am Hebel und schaffte es mit seinem Schnabel, den Kurs auf Westen zu ändern. „Das wird mir ein bisschen Zeit verschaffen und der Kapitän wird es nicht sofort merken.“
Er schaffte es gerade noch aus dem Fenster zu hüpfen, als die Besatzung die Brücke betrat. Ein lautes Hupen gab den Passagieren und den Matrosen das Zeichen zum Ablegen.
„Leinen los! Haltet eure Kameras bereit“, rief der Kapitän energisch durch das offene Fenster. Einige Reporter hatten sich Zugang zur Brücke verschafft und lenkten den Kapitän mit ihren Fragen zu den versprochenen Walen ab. Die Kursänderung hatte er scheinbar nicht bemerkt.
Der Dampfer tuckerte los und Erwin flog ihnen eilig voraus. „Mal sehen, was die Touristen gleich vor ihre Linse bekommen“, dachte er sich etwas schelmisch. Fröhlich flog er zu den Sandbänken, die westlich des Leuchtturms aus dem Wasser ragten.
Als er ankam, entdeckte er seine Freunde – die Seehunde. Er erklärte ihnen seinen Plan und bat sie darum, heute ausnahmsweise ein paar Kunststücke im Wasser vorzuführen, sobald der Ausflugsdampfer in Sichtweite kam.
Die Seehunde hüpften heiter ins Meer und ließen immer mal wieder eine Nase oder ihre Flossen aus den Wellen aufblitzen. Die ersten Touristen sahen von Weitem die Bewegungen und riefen aufgeregt: „Da sind die Wale! Seht nur, da vorne!“
Der Kapitän holte ungläubig sein Fernglas hervor. Er merkte sofort, dass ihm hier jemand einen Streich gespielt hatte. Doch jetzt war es geschehen. Er konnte es nicht mehr ändern, und gleich würden es auch die anderen Passagiere merken und ihr Geld zurückverlangen.
Nur einige Sekunden später wurde es unruhig auf dem Oberdeck des Ausflugsdampfers. Die Touristen erkannten, dass es sich um Seehunde handelte, die brav einige zirkusreife Tricks im Wasser vorführten.
Der Kapitän rechtfertigte sich und versuchte, alles zu erklären. „Wie kann man denn Wale mit Seehunden verwechseln? So ein Irrsinn!“, schimpften die Passagiere.
Erwin hatte das Spektakel verpasst. Er war bereits zurück bei den Walen und nutzte die Gelegenheit, die scheuen Tiere zurück ins offene Meer zu lotsen.
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