
Der australische Sommerabend legte sich wie eine warme Decke über den Dschungel. Die letzten Sonnenstrahlen glitzerten auf den dicken Eukalyptusblättern, und die heißen Steine gaben langsam ihre gespeicherte Wärme ab. In der Luft lag der Duft von trockener Erde, süßen Blüten und dem harzigen Geruch der Bäume.
Der kleine Koala Toby hockte träumend auf seinem Lieblingsast. Er hatte sich fest an die raue Rinde gelehnt und blickte in das langsam dunkler werdende Blätterdach. Die Grillen zirpten ihr erstes Abendkonzert, Frösche quakten aus dem nahen Wasserloch, und ab und zu flatterte ein Flughund lautlos durch die warme Luft.
Gerade als Toby in ein saftiges Eukalyptusblatt beißen wollte, hörte er etwas. Es war kein Quaken, kein Zirpen, kein Rascheln. Es war ein Lied. Leise, eher wie ein Flüstern. Fast wie eine Melodie, die aus den dichten Baumkronen hervordrang.
Toby hielt den Atem an. Da war es wieder. Nah und doch so fern. Ein Lied, das so schön war, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. „Wer singt denn da so spät?“, murmelte er neugierig und machte sich gespannt auf den Weg.
Er kletterte von seinem Baum hinab und tappte vorsichtig über den lehmigen Boden. Über ihm rauschten die Palmwedel, und kleine nachtaktive Insekten surrten um seine Ohren herum.
Zuerst begegnete er einer kleinen Echse, die sich auf einem warmen Stein sonnte. „Hast du das Lied auch gehört?“, fragte Toby. Die Echse blinzelte gelangweilt. „Ich höre nur das Knistern der Äste. Vielleicht ist es der Wind, den du da hörst?“ Toby schüttelte beherzt den Kopf und ging weiter, ohne der Echse weitere Beachtung zu schenken.
Die Luft wurde feuchter, der Boden weicher. Eine Gruppe bunter Papageien flog elegant über ihn hinweg. Sie kreischten laut, doch einer von ihnen, ein alter, bunter Papagei, landete in einem Baum, genau über Toby und fragte: „Was machst du hier auf dem dunklen Waldboden? Ein Koala, wie du, sollte sich lieber in den sicheren Baumkronen aufhalten.“

Der Papagei legte den Kopf schief zur Seite und musterte Toby neugierig. Doch der kleine Koala hatte keine Lust auf ein Gespräch mit dem Papageien und wollte weiterziehen. Doch da war er wieder. Der wunderbare Gesang. Toby spitzte erneut seine Ohren und begann seinen Weg durchs dicke Buschland.
„Jetzt weiß ich, was du hier unten suchst.“, krächzte der alte Papagei triumphierend. Toby drehte sich um und blickte überrascht zum knorrigen Ast hinauf. „Ich höre es auch! Jede Nacht aufs Neue. Falls du dem Gesang versuchst zu folgen… Es kommt von der Lichtung, am Rande des Dschungels.“
Der Papagei sah Toby genau an und sprach leise weiter. „Du weißt doch bestimmt, wo die Baumriesen wachsen.“ Jetzt huschte Toby ein Lächeln über die Lippen. Natürlich wusste er, wo die Baumriesen wuchsen.
Sein Opa erzählte ihm immer wieder von diesem besonderen Ort. Dort sollte es nicht nur die größten Bäume des Waldes geben, sondern auch zauberhafte Wesen.
Während Toby in den Erinnerungen an seinen Opa und den spannenden Erzählungen versunken war, rief der Papagei erneut: „Wenn du die Melodie finden möchtest, musst du dich beeilen. Sobald die Nacht anbricht und der Himmel vollständig von der Dunkelheit umhüllt ist, wird es wieder verstummen und dein ganzer Weg war umsonst.“
Toby nickte ehrfürchtig und dankbar zugleich. Er folgte dem schmalen Pfad, den die kräftige Abendsonne in ein warmes Dunkelrot einhüllte. Doch der kleine Koala verlor auf dem Boden schnell den Überblick. Alles sah gleich aus. Jeder Strauch, jeder Busch. Nur seine Fußspuren im feuchten Boden halfen ihm dabei, nicht ganz die Orientierung zu verlieren und am Ende nicht im Kreis zu gehen.
Doch je schneller die Dämmerung einbrach, desto weniger konnte er hier unten erkennen. Im Nu kletterte er einen alten, knorrigen Baum hinauf und verschaffte sich von dort aus einen Überblick.
Der Dschungel öffnete sich langsam vor seinen Augen. Die Baumwipfel formten sich zu einer hellen Lichtung. Und jetzt, als der Gesang besonders deutlich zu hören war, konnte er etwas erkennen. Auf einem einsamen Ast eines riesigen Baumes, saß jemand.
Toby kletterte nun eilig und wie gebannt, von einer Baumkrone zur nächsten. Doch der Gesang schien noch weit entfernt zu sein.
Als er gerade über einen schmalen Ast zum nächsten hangelte, begegnete er noch weiteren Waldbewohnern. Zuerst traf er eine kleine Opossumfamilie. Sie tappten gerade durch das Unterholz.
„Habt ihr das Lied auch gehört?“, fragte Toby aufgeregt. Doch die Mutter blinzelte ihn nur an, gähnte ausgiebig und meinte schläfrig: „Welches Lied meinst du? Ich höre nur das leise Rascheln der Nacht…“ Noch bevor Toby etwas erwidern konnte, rollten sich die kleinen Opossums zusammen, als hätte das Dunkel sie mit einer sanften Müdigkeit eingehüllt.
Ein Stück weiter traf Toby auf zwei Wombats, die gerade eine Erdkuhle beschnupperten. Kaum hatte der Koala seine Frage ausgesprochen, begannen sie langsam zu blinzeln, gähnten und legten sich flach auf den warmen Boden. „Wie angenehm… so eine Stille…“, murmelte einer noch, ehe beide tief und friedlich einschliefen.
Verwundert und ein wenig benommen vom Zauber der Dschungelnacht wanderte Toby weiter. Die Melodie war nun deutlicher zu hören – sie schien ihn zu rufen, ganz sanft und ohne Eile.
Schließlich erreichte er den Rand der großen Lichtung. Dort saß eine alte Lerche auf einem einsamen Ast. Sie bewegte sich nicht, ihr Lied schwebte kaum hörbar durch die warme Luft.
Toby kletterte vorsichtig näher heran, setzte sich still auf einen der hohen Baumwipfel und lauschte. Die Lerche sang. Ganz leise. Fast nur für sich selbst. Ihr Lied klang wie das Rascheln von Blättern, wie das Schaukeln der Äste im Wind, wie das sanfte Summen der Dämmerung.
Plötzlich spürte auch er, wie ihn eine angenehme Schwere überkam, wie seine Glieder weich wurden, sein Atem ruhiger. Während die Lerche sang, begannen Tobys Augen langsam schwer zu werden. In einer Art Traum formten sich Bilder – Wasserfälle, die glitzernd in verborgene Täler stürzten, ein Himmel, der in sanftem Violett und Gold leuchtete, riesige Farne, die sich wie beschützende Decken über ihn legten. Er lächelte leise – im Halbschlaf.
Die alte Lerche warf ihm einen kurzen, freundlichen Blick zu. „Schlaf gut, kleiner Koala. Du hast mich gefunden. Ich singe nur für die, die wirklich hinhören.“
Doch Toby hörte die Worte kaum noch. Eingehüllt in das Lied, glitt er langsam in einen tiefen, friedlichen Traum – irgendwo zwischen den rauschenden Blättern, dem Duft des Waldes und einem Himmel, der lila leuchtete.
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